Lange Schatten des Schweigens
Lange Schatten des Schweigens
– eine verbotene Liebe
im Zweiten Weltkrieg und danach.
Ein Film vom Rudolf Leiprecht, Erik Willems und Gerard Leenders
© Jobfilm Amsterdam 2022; Länge: ca. 60 Minuten.
Trailer zum Film
Inhalt
Adriana, eine 16-jährige Jugendliche aus einer jüdisch-niederländischen Familie, steht in Rotterdam an einer Straßenbahnhaltestelle. Wir sind im Jahr 1944, genauer im späten Frühjahr. Die Stadt liegt nach der Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe in Trümmern, das Land ist seit vier Jahren von deutschen Truppen besetzt. Diese Besatzung ist auch für Adriana und ihre Familie eine lebensbedrohliche Gefahr, die sie jedoch lieber verdrängt. Sie will leben, Spaß haben, glücklich sein. Da steigt Karl, ein junger deutscher Marinesoldat aus Bad Waldsee (Süddeutschland) aus der Straßenbahn. Es ist fast wie im Film: Sie schaut ihn an, er schaut sie an, und es klickt. Adriana wird diesen Moment auch 70 Jahren später immer noch als ‚Liebe auf den ersten Blick‘ bezeichnen. Die beiden verabreden sich zur Nachmittagsvorstellung in einem Kino. An den Film selbst können sie sich später kaum mehr erinnern. Sie treffen sich in den nächsten Wochen und Monaten so oft wie möglich. Adriana entdeckt bald, dass sie ungewollt schwanger geworden ist. Wie soll sie es ihren Eltern sagen?
Material
Handreichung
Die zugehörige Handreichung von Rudolf Leiprecht und Martina Kerkhoff
Veröffentlichung
Interdependez von Inklusion und Exklusion – ein sozialwissenschaftlicher Selbstversuch
Leiprecht, Rudolf (2023). In einer sehr ähnlichen Fassung publiziert in: Iman Attia, Swantje Köbsell, Nivedita Prasad (Hrsg.) (2015): Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen. Bielefeld: Transcript. S. 113–128. Für die jetzt vorliegende Textversion wurden 2023 nochmals Fehler korrigiert.
Filmplakat
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Zum Inhalt des Dokumentarfilms
Adriana und Karl sind meine Eltern. Das Kind, das in Adriana heranwächst, mein älterer Bruder, wird im März 1945 zur Welt kommen. Adriana und Karl können erst 1947, zweieinhalb Jahre nach Kriegsende, in Bad Waldsee heiraten; sie bleiben bis ans Lebensende zusammen. Ihre Beziehung war jedoch von Beginn an mit erheblichen Hindernissen konfrontiert: Das nationalsozialistische Regime griff vehement in die Wahl von Partnern und Partnerinnen ein: So waren z.B. Beziehungen zwischen Juden/Jüdinnen und Nicht-Juden/Nicht-Jüdinnen streng verboten, sie galten als »Rassenschande«. Auch in den vom Deutschen Reich besetzten Niederlanden waren diese Gesetze eingeführt worden. Zudem wurde von vielen Menschen in den Niederlanden eine Frau, die eine Beziehung mit einem deutschen Soldaten eingegangen war, als ‚Moffenhoer‘ (Deutschenhure) geächtet, auch noch nach dem Krieg. In Deutschland waren Ehen mit Ausländern/Ausländerinnen, selbst wenn diese (wie bei Niederländer/Niederländerinnen) als ‚arisch‘ definiert wurden, von vielen ebenfalls nicht gern gesehen. Diese Einstellung zu ‚gemischten‘ Ehen, die es immer noch gibt, änderte sich nach dem Krieg nur sehr langsam.
Erst im Alter von 36 Jahren habe ich ein lang gehegtes Familiengeheimnis erfahren: Beinahe beiläufig teilte mir mein Vater mit, dass mein niederländischer Großvater Jacob Jude war. Mehr Informationen bekam ich von meinen Eltern nicht. Immer noch dominierte das Schweigen zu unserer Familiengeschichte. Erst durch intensive Recherchen in Familienunterlagen und in öffentlichen Archiven wurde mir nach und nach klar, was passiert war: Jacob, der während der Besatzung der Niederlande durch deutsche Truppen zunächst durch seine Ehe mit meiner katholischen Großmutter Diana vor Verhaftung und Lager ‚geschützt‘ war, musste den Davidstern tragen, durfte seinen Beruf als Pianist nicht mehr ausüben, und er musste ständig darauf achten, der nationalsozialistischen Besatzungsmacht nicht den geringsten Anlass zur Deportation zu bieten. Diese änderte 1944 ihre Politik gegenüber ‚Mischehen‘, und Jacob wurde in einem Arbeitslager für Juden, die mit Nicht-Jüdinnen verheiratet waren, interniert. Jacobs Vater, mein Urgroßvater, der nicht in einer ‚gemischten‘ Ehe lebte, war bereits 1942 zusammen mit 14 jüdischen Familienangehörigen in Auschwitz-Birkenau ermordet worden. Und meine Mutter verliebt sich in einen deutschen Soldaten?!
Ich entschloss mich, einen Dokumentarfilm über die verbotene Liebe und die komplizierte Familiengeschichte meiner Eltern zu machen: eine Geschichte zwischen zwei Ländern, zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen. Es geht dabei um Liebe, aber auch um Antisemitismus/Rassismus und Gewalt, um Schweigen und Tabus, um lange Schatten, die auch noch die folgenden Generationen begleiten. Die Kriegsjahre in den Niederlanden und Deutschland und das rassistisch-antisemitische Regime des Nationalsozialismus bilden dabei den Kontext, wobei nationalsozialistische Ideologie und Rassismus/Antisemitismus auch nach Kriegsende noch weiterwirkten. Deshalb befasst sich der Film auch mit der Frage, welches Leben meine Mutter als junge Frau aus einer jüdischen Familie in der süddeutschen Kleinstadt Bad Waldsee unter diesen Bedingungen führen konnte bzw. geführt hat.
(Rudolf Leiprecht)
Organisationale Anbindung des Dokumentarfilms
Dieses Dokumentarfilmprojekt versteht sich als Beitrag zur europäischen Erinnerungspädagogik. Basierend auf den Recherchen von Rudolf Leiprecht wurde mit dem Filmemacher Erik Willems und dem Journalisten Gerard Leenders zwischen 2020 und 2022 an diesem Film gearbeitet. Das (Low-Budget-) Projekt wird u.a. vom Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ) finanziert und durch das Institut für Pädagogik an der Carl von Ossietzky Universität begleitet. Der Film liegt bislang in den Sprachfassungen deutsch, niederländisch und englisch vor.
Zu den Filmemachern: ein deutsch-niederländisches Team
Rudolf Leiprecht (Autor, Regie, Produktion) wurde 1955 in Bad Waldsee (Deutschland) geboren. Aufgewachsen ist er in Stuttgart und Rotterdam. Nach Studium und Promotion im Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen und als Forscher an der Freien Universität (VU) Amsterdam lehrt und forscht er von 2001 bis 2022 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Als Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Diversity Education beziehen sich seine Forschungen auf Themen der kritischen Diversitätsforschung: Stereotypisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung entlang von Differenzlinien/Differenzordnungen wie Ethnie/Nation/Kultur, Geschlecht/Sexualität und Klasse/Schicht. Bis zum 30. September 2022 leitet er die Oldenburger Arbeitsstelle Rassismus, Fundamentalismus, Gewalt: Analyse, Prävention, Forschung und Beratung für pädagogische Arbeitsfelder (ARFG).
Erik Willems (Regie, Produktion, Kamera, Schnitt) wurde 1957 Alem, Maren en Kessel (Niederlande) geboren. In Amsterdam und in den letzten Jahren in Haarlem ist er seit vielen Jahren als selbstständiger Filmemacher tätig. Ein Schwerpunkt seiner Arbeiten besteht in der Herstellung von Dokumentarfilmen, die Sozialgeschichte und/oder aktuelle soziale Fragen thematisieren. Häufig greift er dabei auf die Form von biographischen Portraits mit gesellschaftlichen und historischen Kontextualisierungen zurück. Seit 1994 bis heute sind über 85 Produktionen entstanden; und immer wieder geht es dabei auch um Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg, Besatzung/Befreiung, Rassismus/Antisemitismus und Kolonialismus. Erik Willems hat Geschichte studiert (doctoraal-examen Nieuwe en Nieuwste Geschiedenis).
Gerard Leenders (Recherche, ausführende Produktion) wurde 1954 in Uithoorn (Niederlande) geboren. Er ist Produzent von Radioprogrammen und Historiker (doctoraal-examen Nieuwe en Nieuwste Geschiedenis). Seit 1992 ist er Redakteur und Programmhersteller mit Schwerpunkt Geschichte beim Nationalen Rundfunk (VPRO/OVT). Gerhard Leenders entwirft, gestaltet und produziert Radiodokumentationen, in deren Mittelpunkt die Geschichte sozialer Fragen und sozialer Konflikte steht, häufig mit Bezügen zum Zweiten Weltkrieg. Bei seinen Radiodokumentationen greift er oft auf Materialien aus Oral History zurück.